Damals ein Gemüseanbauzentrum Österreichs – heute Bauland
Jahrhundertelang war der Gemüseanbau in Neusiedl am See ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Neben den Besitzern der Hausgärten hatte fast jeder Neusiedler ein kleines Gartengrundstück. Eine besondere Rolle spielte der Neusiedler Wintersalat. Jährlich wurden über 20 Millionen Stück Pflanzen in mühevoller Handarbeit gesetzt. Die Anbaufläche reichte vom Ried Saubühl (heute Bühl-gründe hinter der Bezirkshauptmannschaft) bis zu den Seegärten bei der Weidener Hottergrenze.
Ende April bis Mitte Mai herrschte das „grüne Fieber“ in Neusiedl am See. So wurde die Hektik und Spannung während der Erntezeit genannt. Im Morgengrauen um halb 4 Uhr früh wurde mit dem Salatschnitt begonnen. Die ersten vollbeladenen LKW fuhren bereits um 6 Uhr Richtung Gemüsemärkte nach Wien und ganz Österreich. Bis Anfang des 20. Jahrhundert wurde der Neusiedler Salat mit Pferdewagen zum Wiener Naschmarkt gebracht.
1930 wurde die Obst- und Gemüsegenossenschaft gegründet. Das erste Büro befand sich im ersten Stock des ehemaligen Turmgasthauses (heute im Eigentum der Familie Göschl, Hauptplatz 30).
1956 erfolgte beim Gartenweg der Bau einer Übernahmehalle und 1966 der Zubau eines Kühlhauses (heute alter Wirtschaftshof der Gemeinde). 1983 wurde eine neue große Vermarktungs-zentrale beim „Ganslsee“ gebaut (heute Bauhof der Stadtgemeinde).
Innerhalb weniger Jahre wanderte die Salat- und Gemüseproduktion in den Seewinkel. Vom Handel und Konsumenten wurde immer mehr gleichmäßig geformter Salat aus der Folien- und Glashausproduktion gefordert. Obwohl geschmacklich besser, hatte der unterschiedlich große Wintersalat gegen diesen Trend keine Chance. 1993 wurde der Sitz der Gemüsegenossenschaft nach Wallern verlegt. 1994 erfolgte die letzte Übernahme von Gemüse in Neusiedl am See.
Auf fruchtbarstem Gartenboden wachsen heute Wohnhäuser und die Blockbauten der Siedlungsgenossenschaften in den Himmel.
Nur mehr vereinzelt werden ein paar Wintersalatpflanzen zur Deckung des Eigenbedarfs gesetzt. Der Großteil der NeusiedlerInnen wählt beim Salateinkauf unter dem reichhaltigen Angebot der Supermärkte, beziehungsweise am Bauernmarkt oder bei einem kleinen Gemüsegeschäft am Hauptplatz. Das beeindruckende Geschmackserlebnis des „Neusiedler Wintersalates“ können sie nicht mehr erfahren.
Quellen: Topothek Neusiedl am See; Protokolle der Obst- und Gemüsegenossenschaft des Bezirkes Neusiedl am See; Paul Rittsteuer, Neusiedl am See als Zentrum des Wintersalates. Geschichten rund um das „grüne Fieber“, In: Neusiedler Jahrbuch, Band 22 (Jahr 2020), S. 87-105
LR a. D. ÖR Paul Rittsteuer, Dr. Eva Maria Mannsberger, Martin Pieber BEd